Von: Eckart Conze


Im April 1933 aus Marburg in die Emigration gezwungen, ist der Nationalökonom Wilhelm Röpke (1899-1966), einer der Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft und fraglos einer der bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, nach 1945 nicht an die Philipps-Universität zurückgekehrt. Dort hatte er nach dem Ersten Weltkrieg zunächst studiert und dann mit Promotion und Habilitation seine wissenschaftliche Karriere begonnen; zwischen 1929 und 1933 hatte er dort den Lehrstuhl für Politische Ökonomie inne. Warum ist Röpke nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus nicht an seine Alma Mater, seine frühere Universität, zurückgekommen? Die Antwort auf diese Frage fällt vielschichtig aus. Versuche, den in den Jahren seines Exils zu internationaler Reputation gelangten Ökonomen zurück nach Marburg zu holen, hat es durchaus gegeben. Aber sie blieben zaghaft, und sie gingen – unmittelbar nach dem Krieg – nicht von der Marburger Universitätsleitung aus, sondern von einzelnen Professoren wie dem unbelasteten Rechtswissenschaftler Fritz von Hippel oder von Edward Hartshorne, dem für Marburg zuständigen Hochschuloffizier der amerikanischen Militärregierung.

Doch selbst wenn die Hochschulspitze offiziell an den 1933 aus Marburg und Deutschland verjagten Wirtschaftswissenschaftler herangetreten wäre, um ihn zu einer Rückkehr zu bewegen, so wie es beispielsweise die Universitäten Heidelberg, Tübingen und München taten, wäre Röpke vermutlich einem Ruf nach Marburg nicht gefolgt. Er wollte nicht als Marionette der Besatzungsregierung erscheinen. Das würde, so sah er es selbst, seiner Wirkung in Deutschland schaden, wo noch lange in die Nachkriegszeit hinein Gegner des Nationalsozialismus, Emigranten wie Röpke, dem Vorwurf des Verrats ausgesetzt waren. Noch in den 1960er Jahren wurde von konservativer Seite mit diesem Vorwurf Wahlkampf gegen den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Willy Brandt geführt. Bis in die Mitte der Gesellschaft stießen solche Anschuldigungen auf Zustimmung, bei den zahllosen nationalsozialistisch Belasteten, denen Menschen wie Röpke den Spiegel ihres eigenen Handelns in der NS-Zeit vorhielten. Dazu gehörten diejenigen, die nach 1933 auf ihren Positionen geblieben waren und sich mit dem NS-Regime arrangiert hatten: Mitläufer, Profiteure, Unterstützer – auch an der Universität, auch in Marburg. Sollte Röpke diesen ehemaligen Kollegen nun gegenübertreten, mit ihnen zusammenarbeiten, so als wäre nichts geschehen, als hätte es die Jahre zwischen 1933 und 1945 – Gewaltherrschaft, Krieg, Völkermord – nicht gegeben? Der Fall Röpke ist – auch in dieser Beziehung – die Marburger Variation eines deutschen Themas. Wilhelm Röpke blieb nach 1945 in Genf.

Ausnahmeerscheinung im Marburg der 1920er Jahre

Vielleicht schämten sich aber auch manche in Marburg, möglicherweise bis in die Universitätsleitung, für das, was man dem Wirtschaftswissenschaftler 1933 angetan hatte, und dafür, wie man mit ihm umgegangen war. Womöglich glaubten manche, ihm nichts ins Auge sehen zu können, wollten nicht durch ihn im universitären Alltag mit dem eigenen Versagen, dem eigenen schlechten Gewissen konfrontiert werden. Die ehrende Erinnerung an Röpke als Marburger Student und Wissenschaftler setzte aus diesem Grund erst viel später sein, letztlich erst nach Röpkes Tod 1966. Die Erinnerung an ihn, das wurde beispielsweise bei den Marburger Veranstaltungen zu seinem 50. Todestag 2016 deutlich, bedeutet zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit der Marburger Universitäts- und Stadtgeschichte insbesondere in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, in der Zeit der Weimarer Republik und angesichts des Aufstiegs und der Machtübernahme des Nationalsozialismus. Sowohl in der Marburger Stadtgesellschaft als auch an der Universität war Röpke mit seinem demokratischen Republikanismus und seiner humanistisch geprägten liberalen Grundüberzeugung eine Ausnahmeerscheinung. Er ist – leider – nicht repräsentativ für die Geschichte der Marburger Universität, ihrer Studierenden und ihrer Lehrenden, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Dazu muss man sich nicht mit Wilhelm Röpkes wissenschaftlichem Werk auseinandersetzen. Das würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, zumal es dazu eine reiche Forschung gibt. Röpke handelte, auch in seinen Marburger Jahren, nicht nur als Wissenschaftler, sondern als politisch denkender Mensch, geprägt von seinen demokratischen und liberalen Überzeugungen, die sich gerade in seiner Marburger Zeit, der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, den krisengeschüttelten Anfangsjahren der Weimarer Republik herausbildeten. In Marburg, in Stadt und Universität, setzte sich der Student und Doktorand für die junge Demokratie ein, die nicht nur von denjenigen bekämpft wurde, die zurück ins Kaiserreich wollten, sondern schon bald auch von denjenigen, die den demokratischen Staat durch eine Führerdiktatur überwinden wollten. Professoren wie der Theologe Martin Rade oder der Völkerrechtler Walther Schücking, die sich für Republik und Demokratie einsetzten, waren an der Marburger Universität die Ausnahmen. Und auch unter den Studierenden und Doktoranden waren die demokratischen Kräfte, zu denen Wilhelm Röpke zusammen mit seinen Freunden Gustav Heinemann, dem späteren Bundespräsidenten, oder Ernst Lemmer, nach 1945 CDU-Bundestagsabgeordneter, gehörte, in der Minderheit. In der Zeitschrift „Marburger Stadtbrille“ befasste sich diese Gruppe auf satirische Weise mit dem antidemokratischen und mehrheitlich nationalistischen Marburg und zog dadurch schon Anfang der 1920er Jahre den Hass der Rechten auf sich. Die Morde von Mechterstädt, wo im Frühjahr 1920 ein Marburger Studentenkorps, eine paramilitärische Einheit größtenteils aus Verbindungsstudenten, 15 Arbeiter, die angesichts von politischen Unruhen und kommunistischen Aufstandsversuchen bereits festgenommen worden waren, hinterrücks erschoss, entsetzten Röpke. Mindestens ebenso sehr entsetzte ihn aber auch die Tatsache, dass die Mörder von einem Militärgericht freigesprochen wurden. Beides, die Morde und die Freisprüche, waren für Röpke eine „Tragödie“.

Gehasst – verfolgt – verjagt

So war Röpke längst eine Hassfigur der Rechten und Rechtsradikalen, auch der aufsteigenden Nationalsozialisten, als er, der sich 1922 bei dem Marburger Ökonomen Walter Troeltsch habilitiert hatte, nach einer Reihe wissenschaftlicher Stationen 1929 als Professor an die Lahn zurückkehrte. Mittlerweile längst zum Wissenschaftler von nationaler Bedeutung aufgestiegen, verfolgte er nicht nur den Aufstieg der Nazis, sondern auch die Zerstörung der Republik durch den Zangenangriff von Nationalsozialisten und Kommunisten mit Sorge. Immer wieder äußerte er sich öffentlich, auch in Marburg, und er hörte damit auch nicht auf, nachdem Reichspräsident Hindenburg am 30. Januar 1933 Adolf Hitler das Amt des Reichskanzlers übertragen hatte und die Nationalsozialisten vom ersten Tage mit brutaler Gewalt daran gingen, ihre politischen Gegner auszuschalten und ihre Herrschaft zu sichern. Röpke gehörte zu den Marburger Opfern des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, das nicht nur die Entlassung von Juden aus dem öffentlichen Dienst ermöglichte, sondern auch die Entfernung politisch missliebiger Beamter. Als Grund für seine Versetzung in den Ruhestand, die offiziell im Oktober 1933 erfolgte, diente nicht zuletzt die Trauerrede am Grab seines akademischen Lehrers Walter Troeltsch, in der Röpke im Februar 1933 die antidemokratische Politik des jungen NS-Regimes kritisiert hatte. Als „undeutsch“ wurde diese Rede charakterisiert, mit ihr begründete das Regime auch Röpkes Ausbürgerung. Aber auch die Freundschaft zu jüdischen Kollegen, unter ihnen der Sprachwissenschaftler Herrmann Jacobsohn, wurde ihm vorgeworfen. Jacobsohn nahm sich angesichts der Verfolgung im April 1933 in Marburg das Leben. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Wilhelm Röpke schon nicht mehr in Marburg, nicht mehr in Deutschland. Der aggressive Hass, zunehmende Einschüchterungen und die wachsende Repression zwangen ihn – und seine Familie – in die Emigration, die über die Niederlande und Großbritannien zunächst nach Istanbul führte, ab 1937 dann nach Genf, wo er am berühmten Institut Universitaire de Hautes Études Internationales zu lehren begann.

Wenn Stadt und Universität Marburg sich heute an Wilhelm Röpke als einen bedeutenden Wissenschaftler erinnern, dann schmücken sie sich mit einem Studenten und Wissenschaftler, einem engagierten Demokraten und Republikaner, der freilich genau deshalb in Marburg schon früh verfolgt wurde, dem Hass und Hetze entgegenschlugen und der sich deshalb 1933 gezwungen sah, Stadt und Universität zu verlassen. Die Erinnerung an Wilhelm Röpke muss deshalb eine gebrochene bleiben.

Weiterführende Literatur (in Auswahl):

Eckart Conze u.a. (Hg.): Wilhelm Röpke. Wissenschaftler und Homo politicus zwischen Marburg, Exil und Nachkriegszeit, Marburg 2017.

Hans-Jörg Hennecke: Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung, Zürich 2005.

Helge Peukert: Röpke, Wilhelm, in: NDB, Bd. 21, Berlin 2003, S. 734-35.

Alfred Schüller: Wilhelm Röpke. Werk und Wirken in Marburg: Lehren für Gegenwart und Zukunft, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 54 (2003), S. 21-48.