Von: Simon Horny


Der berühmte und preisgekrönte Journalist, Autor und ehemalige Auslandskorrespondent des ARD, Peter Merseburger, ist am 15. Februar dieses Jahres im Alter von 93 Jahren gestorben. In seinem letzten Lebensjahr veröffentlichte er unter dem Titel „Aufbruch ins Ungewisse“ eine Autobiographie, in der er seiner Marburger Studienzeit viel Platz einräumte.

Diese außergewöhnliche Gewichtung kam daher, dass seine Studienzeit mit dem Beginn im Jahr 1947 in eine Zeit großer politischer und sozialer Veränderungen fiel, die den progressiven und politisch interessierten Studenten stark beschäftigte und prägte. Er erlebte in Marburg die Blockade West-Berlins, die Gründung der BRD und DDR, das Wiederbeleben der Burschenschaften und die Kluft zwischen Kriegsrückkehrern und Nachkriegsjugend in der Universität. Es bietet sich hier also eine gute Gelegenheit, die Studienzeit des kürzlich Verstorbenen zu betrachten und anhand dieser das studentische Leben in Marburg in den Anfängen der BRD zu beleuchten.

Merseburger begann seine Studien zunächst im Wintersemester 1947/48 in Halle. Mit dem Plan, Journalist zu werden, belegte er die Fächer Geschichte und Germanistik. Zwar gab es in Halle ein Studium der Zeitungswissenschaften, dieses wurde aber von einem kommunistischen Professor geleitet, weshalb Merseburger von einer Belegung absah. Da er seinen späteren Beruf in einem Land mit freier Presse und Meinungsäußerung ausüben wollte, zog er bereits nach einem Semester, kurz vor Ostern 1948, in die amerikanische Besatzungszone nach Marburg, wo auch seine Schwester wohnte.

Dort angekommen erlebte er einen regelrechten Kulturschock: Die amerikanischen verhielten sich im Kontrast zu den sowjetischen betont lässig; die Stadt hatte kaum Bombenschäden aufzuweisen und statt der kommunistischen Professoren in Halle las nun ein „besonders konservativ orientiert[er]“ (1) Lehrkörper die Vorlesungen. Der als konservativ beschriebene Lehrkörper ist im Marburg der Nachkriegsjahre nicht sonderlich überraschend, da die Kleinstadt während des Hitler-Regimes als nationalsozialistische Hochburg bekannt geworden war – Hindenburgs Sarg wurde nicht zufällig am Ende des zweiten Weltkriegs nach Marburg gebracht. Der Marburger Lehrkörper versuchte auch zu verhindern, dass Dozenten mit einer anderen Gesinnung einen Lehrstuhl an der Philipps-Universität bekamen. Das prägendste Beispiel hierfür war für Merseburger der Lehrer Werner Milch. Dieser stammte als einer altangesehenen Familie getaufter Juden und wurde deshalb in der Reichspogromnacht 1938 von der Gestapo festgenommen und nach sechswöchiger Haft im KZ Sachsenhausen ins Ausland nach London vertrieben. Als der Mittvierziger 1947 zurück nach Marburg kam, wurde ihm zwar eine außerplanmäßige Professur gewährt, aber die ordentliche Berufung für den vakanten Lehrstuhl erhielt er erst 1949, nachdem die Landesregierung ihn zum „persönlichen Ordinarius“ ernannt hatte und die Marburger Universität daher nicht weiter dagegen vorgehen konnte. Laut Merseburger sei Werner Milch für die Studierenden ein Lichtblick unter den Professoren gewesen, da er als einziger seine Vorlesungen größtenteils frei hielt und die Studierenden zum freien Reden und Diskutieren auf Augenhöhe anstachelte. Es ist also kein Wunder, dass der Marburger Lehrkörper seine Professur verhindern wollte: Die auf Tradition bauenden Professoren sahen in dem jungen Lehrer mit seinem modernen Lehrstil eine Gefahr für ihre Hochschulpolitik. Für Merseburger hatte Milch noch eine weitere, ganz persönliche Bedeutung: Er wollte bei ihm seine spätere Dissertation schreiben, was durch den plötzlichen Tod Milchs im Jahr 1950 verhindert wurde. Da die übrigen, konservativen Professoren Merseburgers gewünschtes Dissertationsthema nicht vertreten wollten, brach Merseburger sein Studium ab.

Die konservative Grundhaltung der Marburger Bevölkerung führte für Merseburger zu einem weiteren überraschenden Unterschied zwischen dem Studium im sowjetischen Sachsen-Anhalt und im amerikanischen Hessen: Während in der SBZ der Zugriff der SED und der Militärregierung die Bevölkerung politisiert hatte, hatte der eher entspannte Führungsstil der amerikanischen Besetzung in Marburg zu einer Grundstimmung der Apathie gegenüber dem Aufbau neuer demokratischer Institutionen geführt. Diese Apathie zeigte sich unter anderem darin, dass – laut Merseburger – die Marburger Gruppe des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes der einzige Ort in Marburg gewesen sei, an dem über politische Themen wie die Blockade West-Berlins oder die Gründung eines deutschen Weststaats diskutiert wurden – weshalb Merseburger dem SDS bereits im Sommer 1948 beitrat. Der SDS der Nachkriegsjahre ist dabei vom SDS der 60er Jahre abzugrenzen. In den Nachkriegsjahren war der SDS eher ein Verein von Kriegsrückkehrern und der sogenannten „Flakhelfergeneration“, der sich vor allem für den Hochschulzugang sozial Benachteiligter einsetzte und restaurative Tendenzen bekämpfte.

Eine dieser restaurativen Tendenzen war die Wiederbelebung der Marburger Burschenschaften. Da die Philipps-Universität sehr alt und Marburg sehr studentisch geprägt war und ist, hatte es vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten sehr viele Burschenschaften in Marburg gegeben. Diese wurden zwischen 1934 und 1936 im NSDStB gleichgeschaltet; in Folge des Krieges wurde ein Verbot aller studentischen Verbindungen ausgesprochen. Nach dem Krieg gab es zudem ein von den Militärregierungen erlassenes Verbot deutscher Vereine, das erst 1950 wieder aufgehoben wurde. In Marburg hatten sich jedoch schon 1946/47 die letzten Aktiven der alten Burschenschaften inoffiziell getroffen, um die Alemannia wiederzubeleben. Bereits im November 1949, als die Burschenschaften noch nicht gesetzlich erlaubt waren, aber das neu in Kraft getretene Grundgesetz jedem Deutschen Vereinsfreiheit versprach, trafen sich Vertreter von 68 verschiedenen Burschenschaften auf Einladung der Alemannia in Marburg. Merseburger berichtete rückblickend, besorgt, um die erneute konservativ-völkische Tendenz der Burschenschaften, hätten er und seine studentischen Freunde vom SDS ohnmächtig zusehen müssen, als im Juni 1950 auf einem Burschenschaftstag in Marburg dieselben Vertreter ihre Verbindungen formell wieder ins Leben riefen, die Bestimmungsmensur anerkannten und das Farbentragen wieder verpflichtend machten (2). Die Mensur und das Farbentragen waren jedoch noch nicht gesetzlich bestätigt. Merseburger und der SDS nutzten diesen Umstand aus, sammelten auf den Straßen die Mützen der Burschenschaftler – die diese laut Merseburger freiwillig hergaben, da die Rechtslage noch nicht geklärt war – und gaben sie Willy Viehweg, dem Staatssekretär des Kultusministeriums. Dieser schickte die Mützen nach ein paar Wochen zurück an die Universität und die Studenten holten sie sich zurück. Merseburger musste eine Strafe von 50 D-Mark zahlen, da er und seine Freunde viele der Mützen als Jagdtrophäen an ihre Zimmerwände gehängt hatten, mehr erreichten sie mit dieser Aktion nicht.

Ein weiterer zentraler Aspekt des studentischen Lebens in den Nachkriegsjahren ist die Kluft zwischen Kriegsrückkehrern und Nachkriegsstudenten. Während die Nachkriegsstudenten meinten, ihre Tapferkeit durch das Tragen der bunten Burschenschaftsmützen zeigen zu müssen, hatten die studentischen Kriegsrückkehrer gänzlich andere Sorgen. Auch wenn der Krieg 1945 vorbei war, dauerte es teilweise bis 1955, bis Soldaten aus der Gefangenschaft in ihr Heimatland zurückkehren konnten. Und als sie zuhause ankamen, war die Lebensrealität plötzlich eine andere: Während des Krieges hatten sie aus Pflichtbewusstsein und Befehlstreue an der Front gelitten, aber statt dafür nach dem Krieg von der Bevölkerung gelobt, gewürdigt oder geehrt zu werden, wurde ihnen die Schuld an den menschenfeindlichen Taten des NS Regimes gegeben. Dabei war auch irrelevant, welche politische Gesinnung die ehemaligen Soldaten im Krieg hatten – so hatten manche Offiziere selbst gegen das NS-Regime vorgehen wollen, sobald der Krieg vorbei sei. Merseburger beschrieb das Problem sehr treffend: „Ob alle deutschen Soldaten innerlich damit fertiggeworden sind, dass die Wehrmacht, für die sie – meist nicht freiwillig, sondern dem Gesetz gehorchend – marschierten, für eine tyrannische und verbrecherische Sache stand […] – ich wage das zu bezweifeln. Weil die deutsche Sache eine schlechte war, darf es heute keine „erstaunlichen Waffentaten“ geben“ (3). Da sie von vielen Seiten angefeindet wurden, blieben die studentischen Kriegsrückkehrer unter sich und beteiligten sich kaum in öffentlichen Diskussionen. In der Presse wurde sie die „schweigende Generation“ genannt. Die Kriegsrückkehrer unterschieden sich ebenfalls im studentischen Sinne von den Nachkriegsstudenten: Da sie so früh wie möglich ein ziviles Berufsleben beginnen wollten, welches sich durch den Kriegsdienst und teilweise jahrelange Gefangenschaft verzögert hatte, versuchten sie ihr Studium wesentlich schneller zu vollenden, als die meisten Studenten.

Resümierend lassen sich durch die Betrachtung Merseburgers Studienerzählung mehrere zentrale Aspekte des Studiums in der Nachkriegszeit erkennen. Es wurde ersichtlich, dass die deutsche Gesellschaft nach dem Krieg nicht nur in Ost/West gespalten wurde, sondern auch politisch in konservativ-restaurativ und progressiv-demokratisch sowie sozial in Kriegsrückkehrer, „die Alten“ und die Nachkriegsjugend. Gerade in Marburg waren die restaurativen Tendenzen klar und erschreckend erkennbar. Auffallend ist, dass die politische Gesinnung der Professoren für das Studium direkte Auswirkungen hatte und sich im Lehrkörper eine klare Kluft zwischen traditionellen und modernen Lehrern auftat. Am Beispiel Peter Merseburgers würden sich noch etliche weitere Aspekte des Studiums im Marburg der Nachkriegszeit beleuchten lassen, die es zu ergründen gilt. Besonders erwähnenswert wäre dabei die Arbeit des amerikanischen Reeducation Programms, für dessen zivilen Nachfolger, die High Commission for Germany, Merseburger besondere Einblicke bietet, da er nach seinem Studium dort seinen ersten Job bekam. Ebenso ließen sich die neuen politischen Zeitungen, Radiosender und die sogenannten Amerika-Häuser am Beispiel Merseburgers betrachten, da er durch diese Medien Gedankengüter kennenlernte, die während des NS-Regimes aus der deutschen Kultur vertrieben worden waren, beispielsweise Bücher, die im deutschen Raum der Bücherverbrennung zum Opfer gefallen waren. Merseburger war auch selbst für die Marburger Presse journalistisch tätig. Auch alltäglicheres, wie die aufkommende Verwendung von Mais in deutschen Gerichten, oder die Verbannung der Talare aus den Universitäten, ließe sich betrachten. Zuletzt sei auch noch auf die Diskussion um die Anfänge des Marburger Fachbereichs der Soziologie verwiesen, die Merseburger ebenfalls miterlebte, auch wenn der erste offizielle Lehrstuhl der Soziologie erst 1960 eingerichtet wurde. Doch darüber muss an anderer Stelle in einem anderen Rahmen geschrieben werden.

Fußnoten:

1 Peter Merseburger: Aufbruch ins Ungewisse. Erinnerungen eines politischen Zeitgenossen, München 2021, S. 75.

2 Ebd., S. 92.

3 Ebd., S. 98.

Quellen und Literatur:

Peter Merseburger: Brief vom 7.8.1986, zitiert in: Metz-Becker, Marita: Hommage an Marburg. Poetische Impressionen durch drei Jahrhunderte, Marburg 2014, S. 88-90.
Peter Merseburger: Aufbruch ins Ungewisse. Erinnerungen eines politischen Zeitgenossen, München 2021.

Berns, Jörg Jochen (Hg.): Zur Bedeutung Marburgs für die Geschichte der Germanistik, in: Marburg-Bilder. Eine Ansichtssache. Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten, Band 2, Marburg 1996, S. 169-188.

Claas, Herbert: Synthesewissenschaft, Wissenschaft vom Volk und Aufklärung. Anfänge der Soziologie in Marburg bis 1960, in: Berns, Jörg Jochen (Hg.): Marburg-Bilder. Eine Ansichtssache. Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten, Band 2, Marburg 1996, S. 427-444.

Graf, Alexander: Mütze, Band und Braunhemd. Marburger Studentenverbindungen und der Nationalsozialistische Studentenbund während der Weimarer Republik, Marburg 2011.
Hafeneger, Benno (Hg.): Marburg in den Nachkriegsjahren, Marburg 1998.