Von: Noah Hilleke


Mit Blick auf die Orte, an denen in den dunkelsten Zeiten der neueren deutschen Geschichte furchtbare Ereignisse stattfanden, bildet Marburg keine Ausnahme. Die Zeit des Nationalsozialismus war auch für die Universitätsstadt an der Lahn eine prägende Zeit, die Einiges verändern sollte. Dies zeigt sich auch heute noch: beispielsweise im Foyer des Hessischen Staatsarchivs am Friedrichsplatz, das zur Zeit des Nationalsozialismus errichtet wurde und dessen Reliefdecke auch heute noch verschnörkelte Hakenkreuz-Bordüren trägt.

Auch das Marburger Judentum blieb nicht von den Repressionen des totalitären Staates verschont. So wurde zum Beispiel der junge, jüdische Marburger Medizinstudent Jakob Spier Opfer der Willkür und Grausamkeit des NS-Regimes. Zu dieser Zeit – Anfang der 1930er Jahre – wurde der Begriff der „Rassenschande“ geprägt, die als schwerwiegendes Delikt geahndet wurde. Die öffentliche Anprangerung und Verunglimpfung Spiers, in Form eines „Schandmarsches“ durch die Straßen der Stadt, folgte auf eine propagandistische Verfremdung seiner Beziehung zu einer Christin, und war nur dadurch möglich gewesen, dass die Marburger Bevölkerung in Form von Schaulustigen seines erzwungenen Laufes durch die Gassen Marburgs tatkräftig mitgewirkt hatte (1).

Über diesen auch für die Nachwelt weiterhin populären und brisanten Vorfall hinaus, ist die Person Jakob Spiers selbst interessant zu erforschen. Er sollte keinesfalls auf die Vorfälle des 26. August 1933 reduziert werden, auch wenn die Ereignisse dieses Tages ein für die weiteren Studien der Gesellschaft zur Zeit des Nationalsozialismus überaus tiefgreifendes Beispiel sind. Die Geschichte Jakob Spiers ist die Geschichte eines ganz normalen, unauffälligen Marburger Bürgers, der plötzlich tragische Berühmtheit erlangte.

Privatleben

Spier war kein Kind Marburgs, sondern war ,wie viele Andere auch, zum Studium in die Stadt gezogen. Geboren wurde er am 17. September 1908 in Schrecksbach im Kreis Ziegenhain, das heute von Marburg aus in einer guten Dreiviertelstunde mit dem Auto zu erreichen wäre. Sein Vater war Kaufmann, zur Mutter ist wenig bekannt. Sein Studium begann Spier an der Universität Heidelberg. Dort hatte er bereits einige Kurse belegt und abgeschlossen, ehe er im Wintersemester 1930 an der Philipps-Universität Marburg seine Studienlaufbahn fortsetzte und dort auch mit dem Staatsexamen beendete. Zum Beginn seines Studiums findet sich der erste Eintrag im Universitätsarchiv über Jakob Spier: Er war zu dieser Zeit in der Friedrichstraße 7 in Marburg ansässig (2). Diese Adresse lässt sich ebenso im Sommer- bzw. Winterhalbjahr 1931 zurückverfolgen, ehe Jakob Spier im Wintersemester 1932/33 in der Biegenstraße 19 wohnte.

Studienzeit in Marburg

Wie zuvor erwähnt hatte Spier an der Universität Heidelberg studiert, ehe er nach Marburg wechselte. Weshalb er diesen Wechsel angestrebte, bleibt zur Zeit der Recherche offen. Zuvor legte er sein Abitur an einem Gymnasium in Alsfeld ab, wie seiner Studienakte entnommen werden kann (3). Ebenso kann dieser entnommen werden, dass seine Immatrikulation erst sehr spät erfolgte und Jakob Spier zwischen dem 05.12.1930 und 16.01.1933 in der Marburger Medizinfakultät eingeschrieben war (4). Dort erlangte er nach dem medizinischen Staatsexamen seine Approbation als Arzt. Wann genau er dieses Staatsexamen abgelegte, ist nicht aus Akten der Marburger Archive ersichtlich. Es kann geschlussfolgert werden, dass die Urkunden von einer preußischen Behörde in Berlin ausgestellt wurden.

Von Spiers Anfangszeit in Marburg sind leider nur wenige Dokumente überliefert. In diesen gibt es nur wenige Einträge zu seiner studentischen Laufbahn an der Philipps-Universität, die alle spärlich ausfallen, da er pro Semester maximal zwei Veranstaltungen besuchte – dies spricht erneut dafür, dass er bereits in Heidelberg den Großteil seines Kurrikulums absolviert hatte.

Auf einer der Akten zur Begleichung seiner Semestergebühren fehlt der Jahresstempel. Es kann allerdings davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um die Akten aus dem Wintersemester 1932/33 handelt, da die restlichen Semester Spiers an der Philipps-Universität durch Jahresstempel auf dem Einband belegt werden können. Aus allen Akten geht hervor, dass Jakob Spier seine Studiengebühren allesamt in Ratenzahlung beglich, die nur für „bedürftige Studenten“ zur Verfügung stand (5). Was genau in diesem Kontext mit bedürftig gemeint war und wie die Studierenden Marburgs in diese Kategorie eingeteilt wurden, kann nur gemutmaßt werden. Dieses Entgelt rührte daher, dass Jakob Spier nur Veranstaltungen bei Privatdozenten belegt hatte, die – anders als öffentliche Vorlesungen – zusätzlich honoriert werden mussten.

So sind ihm Sommersemester 1931 für zwei Privatvorlesungen insgesamt 153 Reichsmark in Rechnung gestellt worden. Diese setzten sich zusammen aus 35 RM Unterrichtsgeld, 13 RM Wohlfahrtsgebühr und Sozialabgaben, 85 RM Studiengebühr und 20 RM Ersatzgeld. Zu dieser Zeit hat Spier der Akte nach in der Kasseler Straße 11 in Cölbe gewohnt (6).

Im Wintersemester 1931/32 änderte sich Spiers Anschrift erneut und er war in der Ketzerbach 19 wohnhaft, unweit der Elisabethkirche (7). In dem besagten Wintersemester hatte Spier nur eine Veranstaltung besucht, diesmal wurden ihm 155,25 RM in Rechnung gestellt, die sich in Unterrichtsgeld (20 RM), Wohlfahrtsgebühr und Sozialabgaben (15,25 RM), Studiengebühr (100 RM) und Ersatzgeld (20 RM) untergliederten. Beachtenswert ist hier die Steigerung der Studiengebühr um 15 Reichsmark im Vergleich zum vorherigen Semester. Weshalb er seine Adresse so oft wechselte, ist nicht bekannt.

Eine undatierte Quelle kann entweder im oder nach dem Wintersemester 1932 eingeordnet werden, da Jakob Spier bis Januar 1933 studierte und ebenso kann der höhere Studienbeitrag durch die steigende Inflation erklärt werden. Der Beitrag belief sich in der undatierten Quelle auf 164,25 Reichsmark. Die Forderungen wurden von Spier in Ratenzahlung beglichen, wobei in diesem Falle alle Gebühren, bis auf die Studiengebühr und das Ersatzgeld, als erste Rate bei Semesterbeginn zu entrichten waren (8). In seinem vorletzten Jahr an der Universität Marburg beglich Jakob Spier seine Studienkosten in 3 Raten, die maximale Anzahl an Raten, die laut der Anmerkung in dem entsprechenden Beleg zulässig waren. Der Studienbeitrag belief sich in diesem Semester auf 149,25 Reichsmark, die Spier für eine besuchte Vorlesung zu begleichen hatte. Der Beitrag gliederte sich wie folgt auf: 15 Reichsmark Unterrichtsgeld, 14,25 RM Wohlfahrtsgebühr und Sozialabgaben, 100 RM Studiengebühr und 20 RM Ersatzgeld (9). Über den weiteren Studienverlauf Spiers ist im Universitätsarchiv nichts überliefert. Da das Staatsexamen durch den preußischen Staat vergeben wurde, kann es durchaus sein, dass diese Unterlagen in einem anderen Archiv, womöglich in Berlin, zu finden sind.

Nach seiner Studentenlaufbahn arbeitete Spier als Arzt. Wo genau ist nach jetzigem Zeitpunkt der Recherche nicht genau bestimmbar. Nach heutiger Forschung ist allerdings sicher, dass Jakob Spier sich 1936 in die Vereinigten Staaten von Amerika absetzte und dort bis zu seinem Tod im Jahr 1977 in Fargo, North Dakota, arbeitete (10). Zu diesem Zeitpunkt legte er auch seinen Vornamen Jakob ab und anglizierte ihn zu „Jack“.

Die Beziehung zu einer Christin und der „Schandmarsch“

Am 26. August 1933 passierte das für Jakob Spier wohl einschneidendste Erlebnis seines Lebens. Er wurde gezwungen, mit einem Schild in den Händen durch die Straßen Marburgs zu laufen, auf dem seine Liebesbeziehung zu einer Christin diffamiert wurde. Dies mag zunächst als sehr ungewöhnlich erscheinen, allerdings war ein solcher Zug keine Seltenheit: oftmals wurden Menschen, die der Rassenschande bezichtigt wurden, zu einem solchen Marsch gezwungen (11). Der Charakter dieses grotesken Umzuges lässt sich wohl mit dem Wort „Volksfest“ umschreiben, denn das Ereignis spielte sich nicht völlig isoliert von der Bevölkerung Marburgs ab, sondern diese waren fester Bestandteil der Szenerie, zu deren Belustigung ein Spielmannszug ihn begleitete. Dies muss kurz nach seinem Staatsexamen passiert sein.

Die „Oberhessische Zeitung“ schilderte dieses Spektakel zwei Tage später unter der Überschrift „Am Pranger“ so: „Ein Jude [sei] durch die Straßen der Stadt geleitet“ worden: „Auf dem Marktplatz angekommen, geißelte Standartenreferent Todenhöfer die Tat des Juden und warnte ihn, noch einmal mit Christenmädchen in Verbindung zu treten.“(12) Allein diese Formulierung in einem öffentlich zugänglichen Medium zeigt, wie (unter heutigen Gesichtspunkten) grotesk normal eine solche Prozedur des „Schandmarsches“ war. Wie lang dieses Martyrium anhielt und was danach mit Jakob Spier passierte, ist unklar. Erschreckend ist auch, dass nicht nur die ‚unbeteiligte‘ Bevölkerung nichts dagegen unternahm – sie spielte ihren Teil, willenlos und gehorsam gegenüber dem autoritären Staat, mit. Auch die Eltern von Spiers Freundin ließen die Dinge unkommentiert geschehen, womöglich um dem Paar eine solche Demütigung zu ersparen (13). Paradox daran ist, dass die Eltern zuvor ihr Einverständnis erteilt hatten, dass das Paar sich treffen dürfe (14).

Der Leidensweg Spier zeigt somit die abartige Willkür und Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Regimes. Jakob Spier war ein Mensch, der nie negativ aufgefallen war und dennoch ins Fadenkreuz der Nationalsozialisten geriet. Glücklicherweise konnte er sein Leben in North Dakota neu aufbauen und entkam so dem wohl dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte.

Fußnoten:

1 Mehr zu den Vorfällen am 26. August 1933 siehe auch: Klaus-Peter Friedrich: Jakob Spier aus Marburg, in: Ders. (Hg): Von der Ausgrenzung zur Deportation in Marburg und Landkreis Marburg-Biedenkopf. Neue Beiträge zur Verfolgung und Ermordung von Juden und Sinti im Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch. Marburg 2017, S. 331-336.

2 Universitätsarchiv Marburg, Personenverzeichnis für das Winterhalbjahr 1930/31 (Archivbestand 305 m 3/12)

3 Ebd.

4 Ebd.

5 Zu entnehmen dem jeweiligen Eintrag zu Jakob Spier im Personenverzeichnis des jeweiligen Semesters.

6 Vgl. Universitätsarchiv Marburg, Sommersemester 1931, Verzeichnis der Studierenden und der von ihnen belegten Prüfungen (Archivbestand 305 m 2/350)

7 Vgl. Universitätsarchiv Marburg, Wintersemester 1931/32, Verzeichnis der Studierenden und der von ihnen belegten Prüfungen (Archivbestand 305 m 2/356)

8 Siehe Anmerkung auf der jeweiligen Seite des Verzeichnisses in den Archivbeständen.

9 Universitätsarchiv Marburg, Sommersemester 1932, Verzeichnis der Studierenden und der von ihnen belegten Prüfungen (Archivbestand 305 m 2/362)

10 https://www.geschichtswerkstatt-marburg.de/presse/OP25082014.php (abgerufen am 01.08.2022)

11 Vgl. Martin Göllnitz, Sabine Mecking, Skandal, Ein Streifzug durch Marburgs Geschichte im 20. Jahrhundert, in: Martin Göllnitz, Sabine Mecking (Hg.), Skandal, Stadtgeschichten aus Marburg im 20. Jahrhundert, S. 9.

12 https://www.geschichtswerkstatt-marburg.de/presse/OP25082014.php (abgerufen am 01.08.2022)

13 Vgl. John K. Dickinson, German and Jew, The Life and Death of Sigmund Stein, Chicago 22001, S. 155.

14 Vgl. Willertz, John, Marburg unter dem Nationalsozialismus, in: Erhart Dettmering (Hrsg.), Marburger Geschichte, Rückblick auf die Stadtgeschichte in Einzelbeiträgen, Marburg 1980, S. 600.