Von: Prof. Dr. Jürgen Wolf


Vorgeschichte

Für die Literaturgeschichte interessant wird Marburg durch zwei bedeutende Ereignisse, die sich um die 1230er Jahre gruppieren: Die Übersiedlung – oder eher: Flucht – der abgesetzten und bald heiliggesprochenen thüringischen Landgräfin Elisabeth nach Marburg und den Aufbau einer Niederlassung des Deutschen Ordens ab dem Jahr 1233. Für das mittelalterliche Marburg waren die Folgen im positiven Sinn dramatisch, denn „durch das Wirken der hl. Elisabeth in Marburg, ihren Tod und ihre Heiligsprechung, durch die Deutschordensniederlassung und seine Residenzfunktion für die Landgrafen (neben Kassel) wurde Marburg zum ideellen Zentrum der Landgrafschaft Hessen.“1

Elisabeths Beichtvater und ‚Manager‘ Konrad von Marburg verfasste unmittelbar nach Elisabeths Tod († 17.11.1231) eine ‘Summa vitae’. Die Wunder der zukünftigen Heiligen, Zeugenaussagen, die eingegangenen Schriftstücke samt dem Kanonisationsverfahren wurden in einem ‘Libellus de dictis quatuor ancillarum’ protokolliert. Beide Texte wurden im Marburger Deutschordenshaus mehrfach bearbeitet und vervielfältig. Damit endet aber auch schon die kurze literarische Blüte, denn alle folgenden Elisabeth-Viten, -Traktate und -Berichte werden andernorts verfasst und kopiert. Dies gilt bereits für eine ganze Serie noch aus dem 13. Jahrhundert stammender, in ganz Mitteleuropa präsenter lat. Elisabeth-Viten. Große Wirkung erlangte gegen Ende des Jahrhunderts der Erfurter Dominikaner Dietrich von Apolda mit seiner ‘Vita S. Elisabeth’, die ihrerseits zur Basis für zahlreiche volkssprachige Bearbeitungen wurde. Vom geradezu ‚buch- bzw. literaturfeindlichen‘ zeugt auch ein Aufruf des Deutschen Ordens, dass „Der Bau der Elisabethkirche durch Buchverkäufe mitfinanziert werden“ sollte.2

Volkssprachig gedichtet und geschrieben wird aber z.B. im nahen Fritzlar und in Frankenberg. Herbort von fritslar, ein gelarterschulere, verfasst beispielsweise das ‘Liet von Troje’ und Herman von Friteschlar ein umfangreiches Heiligenlebens und den mystischen Traktat von der ‘Blume der Schauung’. Gegen Ende des Mittelalters ist es Wigand Gerstenberg, der ab 1493 für den Landgrafen eine umfassende Landeschronik zusammenstellt – natürlich arbeitet er nicht in Marburg, sondern im nahen Frankenberg.

Bilanziert man die Situation bleibt festzuhalten: Bis weit in das 14. Jahrhundert hinein ist Marburg weder als Schreibzentrum noch als Ort der Literatur von Bedeutung. Zugriff auf Schriftlichkeit hat man aber problemlos mittels der Klöster sowie später in geringem Maße durch Berufs- und Gelegenheitsschreiber. In diese Situation hinein gründet Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen 1527 in Marburg die erste protestantische Universität der Welt.

Hauptgeschichte

In Marburg wie überhaupt in der ganzen Landgrafschaft gibt es KEINEN Buchdrucker. Man kann sich allenfalls in den aufgelösten bzw. aufzulösenden Klöstern bedienen, was man zwar auch reichlich tut, doch um eine Universität mit zukünftigem Weltrang betreiben zu können, sind mehr und vor allem aktuelle Bücher nötig. Ein Buchdrucker muss her!

Vermutlich ist es ein Beauftragter des Landgrafen – die Forschung erwägt Lambert von Avignon oder Hermann Buschius – , der nach einem entsprechenden Drucker sucht. Fündig werden er oder sie offensichtlich in Erfurt. Dort erscheint Anfang des Jahres 1527 nämlich ein Druck in der Offizin von Johann Loersfeld zur Homberger Synode mit „Zuschrift an den Rath des Landgrafen Philipp, Balthasar Schrautenbach“.3 Am 15. Februar 1527 druckt Loersfeld noch in Erfurt, unmittelbar nach der Universitätsgründung am 30. Mai 1527 ist er schon in Marburg tätig. Der erste Marburger Druck eines Werks des bekannten Medizinprofessors Euricius Cordus mit dem Titel AD INVICTISSI ist mit MARPVRGEN l SI Academia. Anno. XXVII. firmiertund dürfte unmittelbar im Auftrag der und für die neue Universität entstanden sein. Wohl nur wenige Tage später (!) erschien Luthers Taufbüchlein auf deutsch in dieser neuen Druckwerkstatt. Es ist firmiert mit Gedruckt ynn der ne= wen löblichen Uni= luersitetMarpurglym M. D. xxvij. liar am . xxij. Tag lJunij.Das heißt, dieses nur eine Lage mit 8 Blättern umfassende kleine Heftchen erschien am 22. Juni 1527 – wohl auch im unmittelbaren Auftrag der Universität.

Der Schrifthunger der neuen Universität und der Bürger Marburgs bzw. der Landgrafschaft insgesamt war längst noch nicht gestillt. Loersfeld warf innerhalb eines Dreivierteljahres in kaum vorstellbarer Druckgeschwindigkeit allein neun Drucke auf den Markt. Landgraf und Universität hatten offensichtlich einen überaus geschäftstüchtigen Drucker gefunden. Aber hatten sie auch einen guten, vielleicht sogar den besten Drucker gefunden?

Bei dieser Frage fällt das Urteil eher zwiespältig aus. Loersfeld druckte in guter, aber keinesfalls überragender Qualität. Dommer spricht von „gut und anständig“.4 Auch die Typenmenge und Typenqualität waren überschaubar – aber vor allem: Er war keinesfalls originell oder gar philologisch versiert: Acht der neun Drucke waren simple Nachdrucke bereits vorhandener Bestseller meist von Luther und Melanchthon, und er druckte nahezu ausschließlich in deutsch.

Und dann ging wieder alles ganz schnell. Schon Anfang 1528 verschwindet Loersfeld von der Druckbühne. War er verstorben? Hatten seine Drucke inhaltlich und ausstattungsmäßig nicht überzeugen können? War der Anspruch an der neuen Universität für ihn zu hoch? Am Absatz seiner Druckwerke konnte es jedenfalls nicht gelegen haben, denn mindestens einer der Drucke von 1527 erschien Anfang 1528 sogar in zweiter Auflage – dann war plötzlich Schluss.

Noch im selben Jahr sehen wir Franciscus Rhode aus Flandern in Marburg drucken. Er übernimmt offensichtlich einige (alle?) Typen aus Loersfeld Druckerei, führt den Marburger Buchdruck dann aber insgesamt auf ein weit höheres Niveau. Für die Universität besonders relevant dürfte dabei eine große Zahl lateinischer Drucke gewesen zu sein, denn Lehr-, Forschungs- und Unterrichtssprache war selbstverständlich Latein. Auffällig ist zudem, dass erst bei Rhode eine Reihe landgräflicher Auftragsdrucke erschienen – war er jetzt der Wunschdrucker von Landgraf und Universiät?

Für unsere Frage nach der ‚Studierendengeschichte‘ zentral ist ein Donnerstags nach dem Sontag Letare, Anno. etc. NewnvnndZwentzig erschienener Druck Rhodes, enthält er doch die erste Stipendiaten-Ordnung der Universität.

Der Landgraf erklärt dort detailliert, woher das Geld für die neue Universität und für die Studenten kommen soll: aus den geistlichen Lehenn – das heißt natürlich nichts anderes als aus den aufgelösten Klöstern und weiteren Kirchengütern. Und das Geld sollte zukünftig wie folgt eingesetzt werden: Von denselben Lehen l nun hynfuro zu yedenzeitenl ein lodder mehr Stipendiaten lyhrerBurgerkindl an gemelltem Studio zu Marpurgl nemlich ein yedepersonl allweg sieben Jarlanng zuhalten l also das zu sollichem Studio leynemyedenl des Jars von gemeltenBenefitien ________ gullden gereicht vnnd gegeben werden. Nur wie hoch das Stipendium sein sollte, musste noch eingetragen werden – im Druck ist dafür extra Platz gelassen. Die Exemplare dieses Drucks im Marburger Staatsarchiv enthalten allerdings jeweils KEINEN Geldeintrag.

Der Landgraf kümmerte sich aber nicht nur um die Finanzierung und Rekrutierung der neuen Studenten, sondern auch um deren berufliche Zukunft, denn den erfolgreichen Universitätsabsolventen – aber nur diesen! – winkten lukrative Stellen im Staatsdienst, und zwar exklusiv für die Landeskinder: Das auch dieselben Stipendiaten l so sie zu guter vernunfftvnndgeschicklichkeit kommen lvnnd so tFglich befunden werden (damit der gemyne man l seine kind desto getr=ster zum Studi halten mFg) allenthalben ynn Steten l Flecken vnndDorffenlvnsererFurstenthumblvnndGrauesschafftenl zu PfernernlPredicantenlvnndSchůlmeisternl vor andern promouiertvnnd genommen werden sollen.

Und wo und wie finde ich das Alles nun?

Alle Drucke des 16. Jahrhunderts sind im VD16 (Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienen Drucke des 16. Jahrhunderts) nachgewiesen. Datenbank und Suchmaske sind zu erreichen über: https://www.bsb-muenchen.de/sammlungen/historische-drucke/recherche/vd-16/ 

Zahlreiche Exemplare sind bereits digitalisiert. Die entsprechenden Nachweise und Links finden sich ebenfalls über den VD 16.

Die Marburger Exemplare der Marburger Offizinen Loersfeld und Rhode (es sind allerdings nicht alle Drucke in Marburg vorhanden) sind bequem über unseren OPAC recherchier- und bestellbar – allerdings nur in den Sonderlesesaal, denn es handelt sich ja allesamt um Bücher, die beinahe 500 Jahre alt sind!

Literaturhinweise:

A. von Dommer: Die aeltesten Drucke aus Marburg in Hessen. 1527-1566. Marburg 1892.

Gustav Könnecke: Hessisches Buchdruckerbuch. Marburg 1894, S. 216-291.

Arno Mentzel-Reuters: Arma spiritualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden. Wiesbaden 2003 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 47).

Jürgen Wolf: Marburg und Umgebung. In: Schreiborte des deutschen Mittelalters. Skriptorien – Werke – Mäzene. Hg. von Martin Schubert. Berlin/Boston 2013, S. 373-385.

Fußnoten:

1: Schwind Sp. 218

2: Vgl. Arno Mentzel-Reuters: Arma spiritualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden. Wiesbaden 2003 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 47), S. 314.

3: A. von Dommer: Die aeltesten Drucke aus Marburg in Hessen. 1527-1566. Marburg 1892, S. 2.

4: Ebd. (wie Anm. 3), S. 4.