Von: Christina Stehling


Persönliche Beziehungen und Netzwerke prägten die Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts. Am Beispiel des Tagebuchs1 von Melchior Kirchhofer, der in den 1790er Jahren in Marburg studierte, wird deutlich, dass auch der Beginn eines Studiums in einer neuen Stadt davon geprägt war. Der spätere Schweizer Pfarrer und Kirchenhistoriker Melchior Kirchhofer studierte als 19jähriger in den Jahren ab 1794 in Marburg. Sein Theologiestudium hatte Kirchhofer zunächst in der Schweiz begonnen, die Studienordnung sah einen zweijährigen Studienaufenthalt an einer deutschen Universität vor, so dass Kirchhofer – wie schon vor ihm sein Vater – sich in Marburg immatrikulierte.

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Am 9. Oktober 1794 kam er nach einer achttätigen Reise von Schaffhausen aus in Marburg an. Direkt nach seiner Ankunft mit der Postkutsche machte er sich auf den Weg zu Professor Robert2, um dort zu erfragen, wo seine Unterkunft sei. Im Fall Kirchhofers war offenbar vor seiner Ankunft brieflich vereinbart worden, dass sich Professor Robert um ein Zimmer kümmerte. Carl Wilhelm Robert, der 1794 Professor der Juristischen Fakultät war, hatte zuerst Theologie studiert. Als 17jähriger war er 1757 nach Marburg gekommen und hatte hier gemeinsam mit Kirchhofers Vater, ebenfalls Theologe, studiert. Diese Studienfreundschaft war die Grundlage für die Bitte Vater Kirchhofers an Robert, bei der Zimmersuche behilflich zu sein.
Im Haus der Familie Robert war über die Ankunft Melchiors nichts bekannt. Schließlich erinnerte sich die Tochter Roberts, dass ihr Onkel etwas wissen könne. Hierbei handelte es sich Professor Johannes Bering3, der Kirchhofer Auskunft gab, dass er ein Zimmer im Haushalt des Universitätsmusikers Konzertmeister Hupfeld in der Augustinergasse beziehen konnte. Dass Universitätsangehörige Studenten in ihren Haushalt aufnahmen, war nicht ungewöhnlich. Von den Studenten, die in privaten Haushalten in Marburg unterkamen, wohnten Ende des 18. Jahrhunderts 10% in Haushalten von Universitätsangehörigen.

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Die erste Nacht in Marburg endete für Melchior Kirchhofer um sieben Uhr durch seinen ersten Besucher. Ein Friseur stand in seinem Zimmer und bot ihm mit dem Hinweis, er sei ehemaliger Friseur von Kirchhofers Vater gewesen, seine Dienste an. Einmal aufgeweckt, begann Kirchhofer mit dem Auspacken. Dabei wurde er immer wieder durch neue Besucher:innen unterbrochen, die in seine Unterkunft kamen. „Zuerst kam ein Stiefelwixer der in einem langen Prolog alle die Schweizer Herren deren Knecht er zu seyn die Ehre gehabt aufzählte […], dann trat ein Wäschermädchen ein, dann wieder ein Stiefelpuzzer, dann ein Schneider und zuletzt noch ein Jude, welche alle eine Empfehlung von meinen Landleuten voranschikten, aber mit Gegenempfehlungen ungetröstet wieder abziehen mussten. Ich muste herzlich lachen, wenn ich bedachte, wie viele Hände in der Hoffnung eines kleinen Geldes oder Betrugs zu meinen Diensten sich anerboten und wie wenige derselben ich nöthig hätte“ (S. 29/30),
Zwei Aspekte werden anhand von Kirchhofers Bericht deutlich: Erstens war es offenbar üblich, dass Studenten in ihren Unterkünften unterschiedliche Dienstleistungen in Anspruch nahmen. Das Reinigen der Wäsche, das Putzen der Stiefel und Ausbürsten der Kleider oder auch Rasieren und Frisieren übernahmen Bewohner:innen der Stadt. Dabei gab es in Marburg durchaus Konkurrenz bei der Werbung um neue studentische Kunden. Zur Kundenakquise griffen die Dienstleister:innen auf Empfehlungen zurück, im Fall Kirchhofers auf Empfehlungen anderer Schweizer Studenten. Diese Empfehlungen stellten ein Qualitätsmerkmal für die jeweilige Person dar, die ihre Dienstleistungen anbot. Der zweite Aspekt, der aus Kirchhofers Bericht deutlich wird: Für die Stadtbevölkerung stellten die Studenten eine überaus wichtige Einnahmequelle dar, um die sie ganz aktiv warben. Kirchhofers Reaktion zeigt aber, dass er zwar auch Empfehlungen aussprechen, aber nur wenige Angebote annehmen konnte.

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Die ersten Tage in Marburg waren geprägt durch Antrittsbesuche, die Melchior Kirchhofer vor allen Dingen bei verschiedenen Professoren machte und die in der Regel mit der Übergabe von Briefen verbunden waren. Der erste Besuch, den er noch am Tag der Ankunft gemacht hatte, galt Professor Johann Heinrich Jung genannt Stilling4, für den er mehrere Briefe aus der Schweiz und ein Empfehlungsschreiben mitgebracht hatte. Die Aufnahme in der Familie Jung war sehr herzlich: Ungemein liebreich versicherte mich Jungs Gattin ihrer Freundschaft und mütterlichen Fürsorge, und zeigte sich alsbald für die Einrichtung meiner kleinen Haushaltung und noch mehr für die Wahl meiner Freunde geschaftig.“ (S. 27)
Nicht nur Jung, der Kirchhofer Kontakte zu anderen Professoren vermittelte, sondern auch seine Frau, durch die über verwandtschaftliche Beziehungen Zugang zu weiteren Professorenfamilien erhielt, waren für Kirchhofer in seiner Marburger Zeit wichtige Bezugspersonen.
„Abends führte mich Jung zu Herren Arnoldi, dem ersten Professor der Theologie auf Besuch. Ich fand an ihm einen ernsten und wie es scheint immer denkenden Mann, der mich aber mit aller Freundschaft aufnahme, und den freyen Zutritt in sein Haus zu allen Zeiten anerbote; auch seine Frau begegnete mir nicht wie einem Fremdlinge sondern wie einem bekannten Freunde, als sie hörte, daß ich von den Jungs als ein HausFreund aufgenommen worden seye.“ (S. 36/37).
Dass Albert Jakob Arnoldi5 Kirchhofer freundschaftlich empfing und ihm jederzeit einen freien Zutritt zu seinem Haus ermöglichte, war für den jungen Studenten ein äußerst wertvolles Angebot: Neben sozialen Kontakten, die es Kirchhofer ermöglichten, ein eigenes Netzwerk aufzubauen, hatte er so auch Zugang zu Arnoldis Bibliothek. Es gab Ende des 18. Jahrhunderts bereits eine Universitätsbibliothek, die jeden Mittwoch und Samstag für zwei Stunden geöffnet war. Alternativ konnte man, wenn man ein Empfehlungsschreiben des Prorektors hatte, auch Bücher für einen Zeitraum von vier Wochen ausleihen. Viel einfacher war es für Studenten, wenn sie die meist sehr großen Privatbibliotheken ihrer Professoren nutzen konnten, die häufig deutlich besser ausgestattet waren als die immer mit einem zu knappen Finanzetat kämpfende Universitätsbibliothek.

Beziehungen waren wichtig für die Studenten Ende des 18. Jahrhunderts und ganz unterschiedlicher Art. Es gab die in Studienzeiten entstandenen Netzwerke der Väter, die zum Finden einer geeigneten Unterkunft genutzt wurden. Ebenfalls zeigen die Ausführungen Kirchhofers, dass landsmannschaftliche Netzwerke nicht nur von den Dienstleister:innen genutzt wurden, um für sich Werbung zu machen, sondern auch, um Professoren vorgestellt zu werden. Empfehlungsschreiben führten zu neuen Kontakten und ermöglichten die Bildung eigener Netzwerke. Dank eines Empfehlungsschreibens wurde Kirchhofer in Jungs Haushalt freundschaftlich aufgenommen. Durch die ausgeprägten Verwandtschaftsnetzwerke innerhalb der Marburger Professorenschaft, kamen damit fast automatisch weitere Kontakte zustande. Einen ganz gezielten Kontakt stellte Jung her, indem er Kirchhofer mit Arnoldi bekannt machte und ermöglichte so, dass Kirchhofer Zugang zu dessen Haus erhielt und selbst ein eigenes Netzwerk aufbauen konnte.

Fußnoten:

1: Schnack, Ingeborg (Hg.): Ein Schweizer Student in Marburg 1794/1795. Tagebuch des Melchior Kirchhofer aus Schaffhausen, Marburg: N. G. Elwert Verlag 1988. Im Folgenden werden Zitate aus dem Tagebuch lediglich mit der Seitenangabe versehen.

2: Nähere Informationen zu den einzelnen Professoren bietet der Marburger Professorenkatalog: „Robert, Carl Wilhelm“, in: Professorenkatalog der Philipps-Universität Marburg <https://professorenkatalog.online.uni-marburg.de/de/pkat/idrec?id=9233> (Stand: 15.4.2021)

3: „Bering, Johannes“, in: Professorenkatalog der Philipps-Universität Marburg <https://professorenkatalog.online.uni-marburg.de/de/pkat/idrec?id=9520> (Stand: 15.4.2021)

4: Vgl. „Jung gen. Stilling, Johann Heinrich“, in: Professorenkatalog der Philipps-Universität Marburg <https://professorenkatalog.online.uni-marburg.de/de/pkat/idrec?id=3643> (Stand: 15.4.2021)

5: „Arnoldi, Albert Jakob“, in: Professorenkatalog der Philipps-Universität Marburg <https://professorenkatalog.online.uni-marburg.de/de/pkat/idrec?id=3243> (Stand: 15.4.2021).