Von: Max Bär
Als die Organisator:innen der Aktiven Fachschaft Geschichte mit der Bitte auf mich zugekommen sind, zu beschreiben, wie das jüdische Leben an der Uni Marburg aussieht, wusste ich nicht so ganz, wo ich anfangen sollte. Jüdisches Leben ist unglaublich heterogen. Auf die rund 100.000-250.000 in Deutschland lebenden jüdischen Menschen (je nachdem welche Berechnungsgrundlage man nimmt und welchen Schätzungen man glaubt) gibt es kaum zwei Lebensgeschichten, die sich gleichen. Und auch in Marburg spiegelt sich diese Vielfalt wider.
Die Jüdische Hochschulgruppe setzt sich aus Studierenden im Alter zwischen 18 und 35, von areligiös-kulturell jüdisch bis zu Menschen, die Wert auf die religiöse Praxis und den Synagogenbesuch legen. Die Gruppe umfasste eine Vielzahl Angehöriger von verschiedenen Fachbereichen (Medizin, BWL, Philosophie, Geschichte …), Nationalitäten (Deutsch, Russisch, Türkisch, Schweizerisch, Amerikanisch, Israelisch, Britisch …), kulturellen Prägungen (Askenasisch, Sefardisch, Bucharisch, Misrachisch), familiären Hintergründen (halachisch-jüdisch, patrilinear-jüdisch, Jews by choice) und natürlich auch das gesamte Spektrum an sozialen, politischen und sexuellen Orientierungen und Identitäten. Man kann es wirklich nur so zusammenfassen: Das jüdische Leben in Marburg ist vielfältig. Und es ist im Aufbruch begriffen!
Als eine Handvoll anderer junge Menschen gemeinsam mit mir beim Fastenbrechen nach Jom Kippur vor drei Jahren die Idee aufkam, eine Jugendgruppe zu gründen, hätte ich mir nie erträumt, dass wir eines Tages in einer so kleinen Stadt wie Marburg tatsächlich 20 Personen in unserer Gruppe zählen würden. Die Idee war junge jüdische Menschen zusammenzubringen, ihnen die Ankunft in Marburg und an der Uni zu erleichtern und natürlich auch nach außen dem Judentum ein Gesicht zu geben (obwohl das, wie gesagt, immer nur Ausschnitte sein können). Gerade in einer so kleinen Gruppe ist das Leben geprägt durch die Menschen, die sich aktiv einbringen. Und so wird aktuell aus dem eher losen Verband mit spontanen Ideen und Vorschlägen eine Gruppe mit semesterübergreifendem Veranstaltungsplan, Instagram-Kanal und mit sich verfestigenden institutionellen Kontakten zu anderen jüdischen und nicht-jüdischen Organisationen hessen- und deutschlandweit. Neben bisherigen gemeinsamen Synagogenbesuchen, Grillabenden, Fahrradtouren, einer Aktion zum Blutspenden, Wandern und Eisessen sowie gemeinsamen Aktionen mit dem JuFo Mittelhessen – dem Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft –, gab es auch verschiedene interreligiöse Veranstaltungen. Man darf gespannt sein, was demnächst noch alles dazukommen wird!
Wer einen generellen Einblick in die jüdischen Lebenswelten in Deutschland bekommen möchte, seinen der Podcast JLID (Jüdisches Leben in Deutschland) sowie die medialen Auftritte des VJSH (Verband Jüdischer Studierender Hessen), der JSUD (Jüdischen Studierenden Union Deutschland) und beispielsweise des ELES (Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk) oder Keshet Deutschland ans Herz gelegt. Es gibt natürlich noch viele weitere nennenswerte und spanende Institutionen und Bewegungen. Wer in Marburg auf dem Laufenden bleiben möchte, sollte unbedingt dem Instagram-Account „Shalom Marburg“ folgen. Generell gibt es eine große Aufbruchstimmung unter den jüdischen Studierenden in Deutschland. An vielen Stellen sprießen Initiativen aus dem Boden.
Wer aufmerksam durch die Straßen Marburgs läuft, findet viele Hinweise auf bedeutende jüdische Persönlichkeiten in Marburg. Nechama Leibowitz, eine bedeutende Bibelwissenschaftlerin, die in Marburg promovierte, oder Hermann Cohen, Professor der Philosophie, sind nur einige wenige Namen. Das es wie einst wieder eine jüdische Mensa in Marburg gibt, bis dahin ist es wohl noch ein gutes Stück. Aber ich kann nur jeden bitten, die eigene jüdische Identität stets mitzubestimmen und die eigene Gegenwart und Zukunft mitzugestalten. Und all diejenigen, die sich als Allies verstehen, ihren jüdischen Mitmenschen solidarisch zur Seite zu stehen und an ihrer kulturellen Vielfalt und Lebensfreude teilzunehmen.