Von: Birk Linhart
Als Student des Studiengangs B.A. Geschichte werde ich mich mit der Marburger Studienzeit Gustav Heinemanns (1899-1976), des späteren dritten Bundespräsidenten der BRD, vorrangig anhand seiner Tagebücher befassen. Diese decken die Jahre 1919 bis 1922 ab,dokumentieren seine Marburger Zeit somit nicht vollständig. Es fehlen sein erstes Semester und sein Referendariat in Marburg.
Heinemanns Geschichte in Marburg beginnt im Sommersemester 1919, als er mit 19 Jahren sein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften fortsetzt. Er hatte sich zwei Jahre zuvor bereits in München eingeschrieben, dort aber nie studiert, da er vom deutschen Heer zur Ausbildung eingezogen wurde (1). Nach Kriegsende begann er sein eigentliches Studium zunächst im November 1918 in Münster, zwei Semester später wechselte nach Marburg. Die Aufzeichnungen in seinen Tagebüchern beginnen erst im Oktober 1919.
Die Politik prägte schon in diesen Jahren Heinemanns Leben. Marburg war nach Heinemanns Aussage „rechtsgerichtet“, allerdings versuchen „Wir wenigen Demokraten und Sozialisten […] unser Bestes“ (2). Heinemann war in verschiedenen politischen Gruppen in Marburg sehr aktiv und notiert diese Treffen und Themen oft in seinen Tagebüchern. Einiges mag uns bekannt vorkommen, wie seine Arbeit für die Hessische Landeszeitung als Journalist oder die Berichte aus seinen Arbeitsgemeinschaften sowie sein politisches Leben als Mitglied der Jugendorganisation der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), welche ihn auch in das Marburger Umland führt. Er berichtet aber auch von Universitätsrichtern, beispielsweise in einer Vernehmung über einen publizierten Artikel, und Forderungen nach einem Duell mit schweren Säbeln – Vorkommnisse, die uns heute sehr fern erscheinen.
Neben Ausflügen in benachbarte Orte, etwa nach Kirchhain oder Amöneburg, hatte er auch die Möglichkeit, fernere Reisen anzutreten. Am 27. November 1919 reist er mit Anderen nach Berlin, um dort Beratungen über das spätere Betriebsrätegesetz zu verfolgen. Mitstreiter fand er unter anderem in den heute noch bekannten Freunden und Studienkollegen Wilhelm Röpke (Ökonom), Ernst Lemmer (Bundesminister), Viktor Agartz (Gewerkschafter) und Karl Bleek (Staatssekretär). Zusammen mit Ernst Lemmer war er mehrmals im Monat bei Professoren zum Kaffee eingeladen; vielleicht auch ein Resultat der Auseinandersetzung Lemmers mit Geheimrat Prof. Traeger, welcher in seiner Vorlesung über die Weimarer Republik und Demokratie herzog (3). Lemmer berichtete dies in Berlin, woraufhin eine öffentliche Auseinandersetzung in der Presse als auch eine Verhandlung gegen Lemmer vor Universitätsrichtern folgte. Deren Urteil wurde später durch den Kultusminister aufgehoben.
1920 begannen Heinemann und einige Freunde mit der Veröffentlichung der „Marburger Stadtbrille“, durch die sie politische Satire anonym betrieben, was sie allerdings im selben Monat noch aufgaben. Mit dem Kapp-Putsch im März 1920 wurde es plötzlich sehr ernst: Heinemann nimmt an Besprechungen über einen Generalstreik teil. Als das in Marburg stationierte Jäger-Batallion 1800 Verbindungsstudenten bewaffnen wollte, fuhr Heinemann im Auftrag der demokratischen Parteien nach Kassel, um dem Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau einen Brief des Prof. Rade zu überbringen, der diesen Befehl verhindern sollte. Nach einem neunstündigen bürokratischen Abenteuer in Kassel war dies verhindert, aber durch den Generalstreik saß Heinemann nun fest. Zurück nach Marburg kam er erst mit einem parlamentarischen Sonderzug am folgenden Tag, für den ihm der ehemalige Reichsministerpräsident Scheidemann einen Platz verschafft hatte.
Wenige Tage später kam es zur Schließung der Universität, da die Studenten zur Unterstützung der Reichswehr eingezogen wurden. Heinemann und Andere wurden Teil einer Volkskompanie, im Gegensatz zu den durch Verbindungsstudenten geprägten Studentenkompanien, die er als Kapp-Sympathisanten charakterisierte. Während seine Kompanie zur Entwaffnung der Arbeiter nach Thüringen zog – was ohne Kampfhandlungen ablief – erfuhren sie von den Morden von Mechterstädt, die durch Marburger Verbindungsstudenten im benachbarten Ort verübt wurden. Ernst Lemmer meldete diese persönlich in Berlin, und Heinemann beschäftigen sie tagelang in seinen Aufzeichnungen. Das folgende Semester verbrachte er in München.
Ein eher nachvollziehbares Erlebnis notierte er am 9. Februar 1921: „Meine Doktorarbeit macht mir viel Kummer, sie will nicht vorankommen“ (4). Insgesamt werden seine Aufzeichnungen spärlicher, doch berichtete er von Anekdoten und Begebenheiten, die in der Rückschau auf diese Zeit immer wieder interessante Figuren beinhalten. Ein Landtagsabgeordneter des Zentrums, der spätere Reichskanzler Franz von Papen, hielt einen Vortrag über deutsch-amerikanische Beziehungen in Marburg. Heinemann bezeichnete von Papen als nüchtern und pragmatisch.
Neben seinem politischen Leben notierte er Beginn und Ende des Versuches, eine Studentin namens Fräulein Hahn für sich zu gewinnen. Am Ende war er erfolglos, sie war aber die häufigste Begleitung für Spaziergänge auf das Schloss oder zum Bismarckturm, seine hierfür wohl beliebtesten Ziele.
Auffallend ist seine Liebe zu Literatur und Theater. Kaum eine Woche verging, in der er nicht mehrere Bücher als gelesen angab und kurz kommentierte oder ein Theaterstück besuchte. Allerdings sind viele der beschriebenen Orte unspezifisch oder nicht mehr vorhanden, sodass sie nur schwer zu rekonstruieren sind.
Gegen Ende seiner Marburger Studienzeit waren seine Aufzeichnungen nicht mehr von politische Themen dominiert, sondern die Person Gustav Heinemanns rückte in den Vordergrund, zusammen mit einer Fokussierung auf seinen Abschluss. Er war immer noch politisch sehr aktiv, dokumentierte dies allerdings immer kürzer. Er beschrieb nun auch den Zustand seiner Wohnung, er stellte fest, dass er „hause wie ein Untier“ (5), eine wohl nicht unübliche Feststellung über studentische Wohnungen nach Abschluss einer monatelangen Abschlussarbeit.
Zur gleichen Zeit bestand er sein Examen, ärgerte sich sehr über das „gut“ seiner schriftlichen Arbeit, erlangte aber ein „sehr gut“ in mündlichen Prüfungen. „Über einen Dr. rer. pol mit Gut kann man sich mehr schämen als freuen“, fasste er seine Ansprüche an sich selbst zusammen (6). Seine Marburger Studienzeit endete 1922 mit seiner Promotion. Er kehrte nochmals als Referendar zurück und lernte in Marburg seine spätere Frau Hilda Ordemann kennen (7).
In seiner Zeit erlebte Gustav Heinemann wohl viel mehr, als Student:innen in der heutigen Zeit, was aufgrund der Umstände, die er erleben musste, wohl besser ist. Seine politische Aktivität für die noch junge Demokratie ist bemerkenswert, und er fand in Marburg die schon erwähnten lebenslangen Freunde. Fast nebenbei passierte sein Studium, das in seinem Tagebuch eine untergeordnete Rolle spielte. Es wirkt, als ob dieses Studium für ihn von wenig Wert wäre, falls die von ihm beschriebenen reaktionären Kräfte die Republik zerstören würden.
Fußnoten:
1: Jörg Treffke, Gustav Heinemann. Wanderer zwischen den Parteien, eine politische Biographie, Paderborn 2009, S. 40-41.
2: Gustav W. Heinemann, Wir müssen Demokraten sein. Tagebuch der Studienjahre 1919-1922, Hg. Brigitte u. Helmut Gollwitzer, München 1980, S. 212.
3: Unter anderem “Herr Erzgauner – Verzeihung, Herr Erzberger” und eine Darstellung Eberts als König, in: Heinemann, Tagebuch, S. 208-209.
4: Heinemann, Tagebuch, S. 118.
5: Heinemann, Tagebuch, S. 165.
6: Heinemann, Tagebuch, S. 150.
7: Hermann Vinke, Gustav Heinemann. Lamuv Taschenbuch 44, Bornheim 1979, S. 32-33.